Erfordernis, Kostenersparnis, Rationalisierung!

Georg Ortner

 

Geburtsdatum 6.3.1897
Geburtsort Steinfeld
Todesdatum 26.2.1941
Todesort Schloss Hartheim

Am 23. Oktober 1941 verständigte das Pfarramt St. Marx zu Radlach bei Steinfeld die Diözesanleitung in Klagenfurt über die Beisetzung einer Urne: „Am 21. Juni wurde auf dem Friedhof zu Radlach die Aschenurne des Georg Ortner im Grabe der Eltern beigesetzt. Georg O. ist zu Radlach am 6.3.1897 geboren. Er wurde im Krematorium zu Hartheim/Linz am 26.2.1941 verbrannt.“

Angaben zur Todesursache finden sich in dem Schreiben keine. Dem Pfarramt, so heißt es, sei aber wohl bekannt, dass Georg Ortner „an einer unheilbaren Krankheit litt …“.

Der Krankenakt von Georg Ortner liegt heute im Bundesarchiv Berlin, im Bestand jener geheimen NS-Stelle, die bis 1941 über die Ermordung von Patienten entschied. Denn selbst unter dem NS-Regime gab es keine rechtliche Legitimation für das Töten von Kranken. Die Kanzlei des Führers schuf dafür eine geheime Dienststelle in Berlin mit der Tarnbezeichnung T4 nach ihrer Adresse Tiergartenstraße 4. Hier erstellten NS-Funktionäre die Listen jener Patienten, die in eigens zu diesem Zweck errichtete Vernichtungszentren transportiert und dort ums Leben gebracht werden sollten. Die Todesurteile fällten Gutachter, ohne die Patienten je gesehen zu haben. Sie orientierten sich einzig an den Eintragungen des Pflegepersonals und der Ärzte in die Krankenakte.

Nach 1945 galten die Krankenakten der ermordeten Patienten als verschollen. Tatsächlich befanden sie sich im Archiv des Staatssicherheitsdienstes der DDR, wo im Jahr 1990 etwa 30.000 erhalten gebliebene Krankengeschichten aus der T4-Stelle entdeckt wurden. Nun erst konnten Forschungen zu den Biografien der Ermordeten begonnen werden. Sie zeigen, wie weitreichend der geheime Morderlass der NS-Führung war.

Die Krankengeschichte von Georg Ortner, von Beruf Handelsangestellter, setzt im Juli 1935 ein. Sie beginnt mit der Empfehlung eines Greifenburger Arztes, ihn in eine Krankenanstalt bei Graz zu überweisen. Georg Ortner litt seit dem Jahr 1928 an starken Kopfschmerzen, zwei Jahre später traten Blicklähmungen, Schüttelkrämpfe und schließlich Lähmungserscheinungen an der linken Körperseite auf. Eine Behandlung in einer Nervenklinik hatte keinen Erfolg erbracht. Der Greifenburger Arzt diagnostizierte, dass sein Patient an einer „Paralysis“ (Lähmung) leide. Er sei „unbedingt anstaltsbedürftig, da sich seine Heimatgemeinde (Steinfeld) um den Patienten in keiner Weise kümmert“.

Tatsächlich wurde Georg Ortner zwei Wochen später im LKH Graz aufgenommen. Die Diagnose lautete auf „Grippenencephalitis“ (Gehirnentzündung). Drei Monate später konnte Georg Ortner das Spital wieder verlassen, lebte aber fortan in Trofaiach bei seinem Bruder, dem Kaufmann Josef Ortner. Im Februar 1936 musste der 39-Jährige erneut für vier Monate ins Spital, da er wieder mit Blickkrämpfen, einer Folge der Hirnentzündung, zu kämpfen hatte. Die dritte Aufnahme erfolgte im Oktober 1937, diagnostiziert wurde „Parkinsonismus“. Der Aufenthalt dauerte bis März 1938.

Nur vier Monate später kam Georg Ortner neuerlich in das LKH Graz. Der Arzt stellte nun eine fortgeschrittene organische Gehirnerkrankung fest. Die erfolglose Behandlung verzweifelte den Patienten: Er versuchte sich wegen fürchterlicher Schmerzen aus einem Fenster der Klinik zu stürzen. Nach dem Selbstmordversuch wurde er in die „Landesheil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke“ Am Feldhof bei Graz überstellt. Dort schilderte er völlig klar seinen Lebenslauf und den Verlauf seiner schweren Krankheit. Auch sei er froh, dass der Suizidversuch misslungen sei, notierte der Psychiater die Worte von Georg Ortner. Voreingenommen klingt der Kommentar des Psychiaters: „Patient negiert irgendwelche Denkstörungen wahrzunehmen, etwa Zwangsgedanken usw., auch Verfolgungsgefühle.“

In den folgenden Monaten überkamen Georg Ortner laufend Blickkrämpfe. Wenn ihn diese nicht ins Bett zwangen, war er aber durchaus aktiv: „Verbringt seine Zeit mit Lesen und Kartenspielen. Raucht auffallend stark“, steht im Akten zu lesen, und: „Versorgt sich selbst“. In den kommenden Wochen wurde er dem Personal zunehmend lästig: Er sei „ängstlich um sein leibliches Wohl besorgt“, „klagt häufig über verschiedene Beschwerden“, sei „zeitweise recht reizbar“.

Im Jahr 1941 veränderte sich der Ton der Aufzeichnungen merklich hin zu einer gewissen Gehässigkeit. Die letzte Eintragung datiert vom 8. Februar 1941: „Hypochondrisch (…), schützt Beschwerden vor, um bestimmte Medikamente zu bekommen. Fällt der Umgebung durch seine Zudringlichkeit lästig, erweist sich als reizbar, leicht erregbar, boshaft. Macht dem Pflegepersonal absichtlich Schwierigkeiten. Ist geistig abgeschwächt und kritiklos.“

Wertende Eintragungen des Pflegepersonals wie diese wurden von den T4-Gutachtern als Todesurteil gelesen. Georg Ortner kam auf die Liste jener Kranken aus der Landesheilanstalt Am Feldhof, die in die Vernichtungsanstalt Hartheim zu transportieren und dort in der Gaskammer zu ersticken waren. Georg Ortner war ein geistig offenbar noch weitgehend intakter und agiler Mensch. Sein Verhängnis war der Wandel der medizinischen Wertvorstellungen. Die Einrichtungen des NS-Gesundheitssystems dienten nicht mehr dem individuellen Wohl des Kranken, sondern waren im Sinne von Kostenersparnis und Rationalisierung an den Erfordernissen einer leistungsfähigen deutschen „Volksgemeinschaft“ ausgerichtet. Georg Ortner konnte dazu nicht mehr beitragen, er lag der Volksgemeinschaft vielmehr als „Ballastexistenz“ auf der Tasche. Das erkannten die Gutachter auch am an sich harmlosen Wort „lästig“.

An einem Morgen zwischen dem 8. und dem 17. Februar im Jahr 1941 weckte das Pflegepersonal Georg Ortner zeitig, achtete darauf, dass er sich ordentlich ankleidete und frühstückte, und brachte ihn mit einer Anzahl weiterer Patienten (insgesamt wurden in diesen Tagen 367 Patienten von Graz nach Hartheim transportiert) zum Bahnhof, wo ein Zug wartete. Im Alter von 44 Jahren fuhr Georg Ortner, ein leidenschaftlicher Leser, Kartenspieler und Raucher, nach Hartheim. Ob er wusste, was auf ihn zukam, ist unbekannt. Dem Pflegepersonal und weiten Teilen der Bevölkerung war es bekannt. Bald nach seiner Ankunft, am 26. Februar 1941, wurde Georg Ortner in der Gaskammer ermordet und sein Leichnahm im Krematorium verbrannt. Die Pfarre Steinfeld bekam die Urne mit seiner Asche im Juni 1941 zugestellt. Sie wurde im Elterngrab in Radlach beigesetzt.

Quellen:

BA Berlin R 179/1999, Pfarre Steinfeld (bzw. St. Martin zu Radlach), Taufbuch Bd. 16; Pfarre Steinfeld (bzw. St. Martin zu Radlach), Sterberegister Bd. 10.